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" Vielleicht, dachte Arne, wurden Gefühle einfach nicht so alt wie Menschen. Ab einem gewissen Alter lebten Ehepartner wie Mitbewohner in einer WG, falls sie nicht längst geschieden waren. Kinder und Eltern hörten auf, einander zu mögen, besuchten sich trotzdem und waren froh, wenn der andere wieder verschwand. Freunde verloren sich aus den Augen, Nachbarn verwandelten sich in Feinde. Liebschaften wurden lästig, alte Schulkameraden peinlich, und selbst ein Haustier fing irgendwann an zu nerven. Jenseits von jugendlichen Leidenschaften begegnete man der Welt am besten mit gut gekühltem Pragmatismus. "
― Juli Zeh , Unterleuten
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" Während Gerhard ihr nachschaute, schlug er rhythmisch gegen das Holz des Türrahmens. Sie tat ihm leid, so sehr, dass es schmerzte. Als der Hass die Oberhand gewann, stellte das eine Erleichterung dar. Hass klärte die Verhältnisse. Im Grunde war alles ganz einfach. Ob es "gut" gab, wusste Gerhard nicht, aber mit Sicherheit gab es "böse". Derzeit trug das Böse die Maske eines fetten alten Hunds.
"Was ist denn los?", fragte Jule.
Gerhard drehte sich um. In den Garten sickerte bereits Dämmerung, der Flur war hell erleuchtet. Sie standen auf der Grenze zwischen Schatten und Licht.
"Warum lässt du die Tür offen? Der Gestank kommt ins Haus."
Erst jetzt realisierte Gerhard die giftigen Dämpfe, die er seit geraumer Zeit einatmete. "
― Juli Zeh , Unterleuten
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" FrauSein bedeutete nichts weiter als die Erlaubnis, sich jederzeit für unzuständig zu erklären. Egal, ob es um das Wechseln einer Glühbirne, das Töten eines Tiers oder die Entsorgung eines Querulanten ging. Die Weiber riefen »Kann ich nicht!«, versteckten das Gesicht zwischen den Händen und sahen später wieder hin, um mit Vorwürfen anzufangen, angesichts dessen, was der Mann getan hatte. Trotzdem liebte Gombrowski seine Frauen, jede einzelne, so verschieden sie waren. Männer besaßen keine Persönlichkeit, sie waren alle gleich. Wer echtes Leben wollte, musste sich mit Frauen umgeben. "
― Juli Zeh , Unterleuten
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" »Hast du mitgekriegt, was gerade los ist?« »Was ich heute alles mitgekriegt habe, das geht auf keine Kuhhaut.« »Duisburg?« »Was?« »Es ist etwas Schreckliches passiert. Hörst du zu?« »Klar.« »Auf der Loveparade sind 19 Menschen gestorben. Totgetreten in einer Massenpanik.« »Hab ich im Radio gehört. Die Sterne hier sind echt krass.« Für eine Sekunde wusste Frederik nicht weiter. Die Sterne Unterleutens bildeten eine Barriere, an der seine Betroffenheit einfach abprallte. »Und?«, fragte er. »Was, und?« »Die Loveparade! Hallo? Das ist ein verdammtes Drama!« »Worüber regst du dich auf?« »Linda! 20 Tote!« »Ich dachte, 19.« »Es kommen ständig neue Zahlen.« »Kennst du eins der Opfer?« »Natürlich nicht.« »Kennst du jemanden, der ein Opfer kennt?« »Nein.« »Kennst du irgendjemanden, der heute auf der Loveparade war?« »Keine Ahnung. Wahrscheinlich schon. Weiß nicht.« »Dann geht dich die Sache auch nichts an. Das ist weit weg passiert. Ohne Fernsehen und Internet hättest du überhaupt nichts davon erfahren.« »Drehst du jetzt frei?« »Diese ständige Hysterie wegen Dingen, die wir nicht sehen, hören oder riechen – das geht mir auf den Sack.« "
― Juli Zeh , Unterleuten