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" Ich versuche mir vorzustellen, wie es wäre, wenn mir dies Erleben zum ersten Mal auf solche Art zuteil geworden wäre. Ich muß den Gedanken abbremsen, so was ist nicht vorstellbar. Eines ist klar: Wäre an dem Mädchen irgendwann in Friedenszeiten durch einen herumstreunenden Kerl die Notzucht verübt worden, wäre hinterher das übliche Friedensbrimborium von Anzeige, Protokoll, Vernehmung, ja von Verhaftung und Gegenüberstellung, Zeitungsbericht und Nachbarngetue gewesen – das Mädel hätte anders reagiert, hätte einen anderen Schock davongetragen. Hier aber handelt es sich um ein Kollektiv-Erlebnis, vorausgewußt, viele Male vorausbefürchtet – um etwas, das den Frauen links und rechts und nebenan zustieß, das gewissermaßen dazu gehörte. Diese kollektive Massenform der Vergewaltigung wird auch kollektiv überwunden werden. Jede hilft jeder, indem sie darüber spricht, sich Luft macht, der anderen Gelegenheit gibt sich Luft zu machen, das Erlittene auszuspeien. Was natürlich nicht ausschließt, das feinere Organismen als diese abgebrühte Berliner Göre daran zerbrechen oder doch auf Lebenszeit einen Knacks davontragen. "
― Marta Hillers , A Woman in Berlin: Eight Weeks in the Conquered City: A Diary
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" Der zweite russische Gast ist ein junger Kerl, siebzehn Jahre alt, Partisan gewesen und dann mit der kämpfenden Truppe westwärts gezogen. Er sieht mich mit streng gerunzelter Stirn an und fordert mich auf, zu übersetzen, daß deutsche Militärs in seinem Heimatdorf Kinder erstochen hätten und Kinder bei den Füßen gefaßt, um ihre Schädel an der Mauer zu zertrümmern. Ehe ich das übersetze frage ich: ‘Gehört? Oder selbst mit angesehen?’ Er, streng, vor sich hin: ‘Zweimal selber gesehen.’ Ich übersetze.
‘Glaub ich nicht’, erwidert Frau Lehmann. ‘Unsere Soldaten? Mein Mann? Niemals!’ Und Fräulein Behn fordert mich auf, den Russen zu fragen, ob die Betreffenden ‘Vogel hier’ (am Arm) oder ‘Vogel da’ (an der Mütze) hatten, das heißt, ob sie Wehrmacht waren oder SS. Der Russe begreift den Sinn der Frage sofort: den Unterschied zu machen, haben sie wohl in den russischen Dörfern gelernt. Doch selbst wenn es, wie in diesem Fall und ähnlichen Fällen, SS-Leute waren: Jetzt werden unsere Sieger sie zum ‘Volk’ rechnen und uns allen diese Rechnung vorhalten. Schon geht solches Gerede; ich hörte an der Pumpe mehrfach den Satz: ‘Unsere haben’s wohl drüben nicht viel anders gemacht.’
Schweigen. Wir starren alle vor uns hin. Ein Schatten steht im Raum. Das Baby weiß nichts davon. Es beißt in den fremden Zeigefinger, es kräht und quietscht. Mir steigt ein Klumpen in die Kehle. Das Kind kommt mir wie ein Wunder vor, rosa und weiß mit Kupferlöckchen blüht es in diesem wüsten, halb ausgeräumten Zimmer, zwischen uns verdreckten Menschen. Auf einmal weiß ich, warum es den Krieger zum Kindchen zieht. "
― Marta Hillers , A Woman in Berlin: Eight Weeks in the Conquered City: A Diary
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" I’ve seen Moscow, Paris, and London, among other cities, and experienced Bolshevism, Parliamentarianism, and Fascism close up, as an ordinary person among ordinary people. Are there differences? Yes, substantial ones. But from what I can tell the distinctions are mostly ones of form and coloration, of the rules of play, not differences in the greater or lesser fortunes of common people, which Candide was so concerned about. And the individuals I encountered who were meek, subservient, and uninterested in any existence other than the one they were born to didn’t seem any unhappier in Moscow than they did in Paris or Berlin—all of them lived by adjusting their souls to the prevailing conditions. "
― Marta Hillers , A Woman in Berlin: Eight Weeks in the Conquered City: A Diary